Wertheim Heinz

Heinz Wertheim

* 27.6.1915 in Gildehaus; ✡ 8.7.1987 in Bentheim

Staatsangehörigkeit deutsch

Vater Julius Wertheim *26.9.1872 in Gildehaus; ✡15.9.1937 in Gildehaus

Heirat der Eltern 21.8.1914

Mutter Helene Rosenbaum *30.1.1885 in Raesfeld; ✡März 1942 in Riga („Dünamünde“)

Tante Johanna Wertheim *30.10.1874 in Gildehaus; ✡März 1942 in Riga („Dünamünde“)

Onkel Bernhard Wertheim *23.4.1878 in Gildehaus; Anstreichermeister in Essen; ✡15.4.1918 in Bouvaincourt-sur-Bresle; oo Jeanette Löwenstein

Onkel Karl Wertheim *25.6.1880 in Gildehaus; ✡5.11.1942 in Auschwitz; oo Frieda Wiesen

Onkel Leopold Wertheim *31.1.1883 in Gildehaus; ✡4.9.1915

Geschwister

Josephine Wertheim *20.6.1919 in Gildehaus

Beruf Metzger, Kaufmann

Adressen Gildehaus, Gronauer Straße 293; Bentheim

Heirat 18.6.1946 in Gildehaus Hella Sass *19.3.1928 in Insterburg; ✡28.12.2012 in Bentheim

Kinder

Familie Wertheim im Ersten Weltkrieg

4.9.1915 Leopold Wertheim als Gefreiter der 10. Kompagnie des Reserveinfanterieregimentes Nr. 64, in den Preußischen Verlustlisten gemeldet als  „gefallen“

10.4.1917 Karl Wertheim in den Preußischen Verlustlisten gemeldet „schwer verwundet“

15.4.1918 Onkel Bernhard Wertheim kriegsgefallen „infolge Verwundung durch Granatsplitter im Unterleib“ als Kanonier der 7. Kompagnie des Ersatzbatallions des Fußartillerieregiments Nr. 13 in Bouvaincourt-sur-Bresle in Nordfrankreich

Vater Julius war mit Jahrgang 1872 vermutlich bereits zu alt, um noch in das „Deutsche Heer“ eingezogen zu werden

Weiterer Lebensweg

17.5.1939 bei Minderheiten-Volkszählung

1936 Aufgabe des väterlichen Metzgereibetriebs

Zwangsarbeit im Hoch- und Tiefbau im Emsland.

Umzug nach Meppen, arbeitet und wohnt bei Cohen

10.11.1938 in der Reichspogromnacht in das Gestapogefängnis Meppen

Verlegt ins Lingener Gefängnis, dann zur Gestapostelle im Schloss Osnabrück

Inhaftiert als Schutzjude im KL Sachsenhausen

24.12.1938 Entlassung aus dem KL Sachsenhausen.

Umgemeldet nach Berlin; Rückkehr nach Gildehaus

Die Deportation aus Gildehaus nach Riga

Schon im November 1941 wurden den Landräten der Grafschaft Bentheim und des Emslandes durch die Gestapo angekündigt, wie viele Juden aus dem jeweiligen Regierungsbezirk „evakuiert“ werden sollten. Die Sollstärke für den Regierungsbezirk Münster lag bei 400, für Osnabrück bei 200 und für Bielefeld ebenfalls bei 400. In Münster erhielten sie am 18. November 1941 die schriftliche Nachricht über die am 13.12. anstehende „Evakuierung in den Osten“. In den Begleitschreiben wurde aufgelistet, was sie alles mitnehmen durften und auch was nicht. Um die Täuschung perfekt zu machen, wurden sie aufgefordert, Handwerkszeug mitzunehmen, da dies bei der Umsiedlung gebraucht werden würde. Jeder konnte bis zu 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen.

Es ist aber anzunehmen, dass davon nur wenige Gebrauch machten, dies allein schon deshalb, da sie es allein nicht hätten tragen können.

Am 10. und 11. Dezember 1941 wurden in Münster durch die Gestapo etwa 105 Juden aus Münster selbst und 285 Juden aus über 100 Orten des Regierungsbezirks Münster im Sammellager „Gertrudenhof“ konzentriert, einem von der Gestapo zu diesem Zweck beschlagnahmten Gasthaus mit angeschlossenem Kinosaal.

Der Abtransport der sechs Juden von Gildehaus nach Osnabrück erfolgte am 11.Dezember 1941 mit dem Autobus. Neben Heinz Wertheim waren dies seine Mutter Helene Lena Wertheim geb. Rosenbaum (*1885 in Raesfeld), seiner Schwester Fine (Josephine *1919 in Gildehaus) und Tante Hannchen Wertheim (*1874 in Gildehaus). Der Vater Julius Wertheim (*1878) war schon im Jahre 1937 einem akuten Herzanfall (Herzinfarkt) erlegen. Aus Gildehaus standen noch zwei weitere Personen auf der Transportliste: Henny Heymann-Neter (*1906 in Gildehaus) und ihr Mann Isidor Heymann (*1905 in Biskirchen bei Wetzlar).

Insgesamt wurden am 11. und 12. Dezember durch die Gestapo 200 Juden aus Osnabrück und 11 weiteren Orten des Regierungsbezirks auf dem Marktplatz gesammelt (3). Von dort aus brachte man sie in Autobussen in das Sammellager für den Bezirk Osnabrück, die Turnhalle der Pottgrabenschule.

Nach der Registrierung und entwürdigenden Leibesvisitationen mussten sie alle noch verbliebenen Wertsachen abgeben.

Im Sammellager in Osnabrück verbrachten die Wertheims mit den anderen 200 Juden zwei Tage und Nächte.

Am Morgen des 13.Dezembers 1942 10 Uhr fuhr der bewachte Personenzug mit 390 Juden aus dem Regierungsbezirk aus Münster ab.

Ebenfalls an diesem Vormittag wurden die 200 Juden auf dem Bahnhof Osnabrück in Abteile der 3. Klasse des Zugs aus Münster verfrachtet. Das Großgepäck wurde durch die örtliche Gemeinde in einen mitgeführten Gepäckwaggon verladen. Das Gepäck hat niemand zurückbekommen.

Der Zug erreichte Bielefeld etwa um 15 Uhr, wo weitere 422 Juden zustiegen.

Ebenfalls auf diesem Transport befinden sich die späteren Weggefährten und überlebenden Freunde Heinz Wertheims Irmgard Heimbach und Ewald Aul aus Osnabrück.

In Bielefeld stiegen 422 Juden zu, auch der spätere Freund und überlebende Weggefährte Arthur Sachs und seine Frau Bertha geb. Heilbronn aus Lengerich bei Rheine.

Unter den 1012 Deportierten befanden sich 148 Kinder im Alter bis zu 15 Jahren. Das Durchschnittsalter der Deportierten betrug 39 Jahre. Von den 34 Juden aus Osnabrück haben nur vier überlebt; für den gesamten Bielefelder Transport ergibt sich eine vergleichbare Relation von 102 Überlebenden bei 1012 deportierten Juden.

In den Mittagsstunden des 13.12.1942 ging die Fahrt von Bielefeld über Hannover, Stendal, Berlin, Königsberg, Tilsit nach Riga in Lettland.

Am 15. Dezember traf der Transport erst kurz vor Mitternacht am Güterbahnhof Skirotawa ein. Die Deportierten mussten deshalb noch bis zum Morgen in den verschlossenen eiskalten Wagen ausharren (5), bis sie dann am Morgen des 16. Dezembers 1941 „unter Schlagen und Schimpfen von der wütenden SS aus dem Zug getrieben“ wurden.

Inge Rosenthal-Friedmann, eine gebürtige Bielefelderin, die zusammen mit ihren Eltern nach Riga deportiert wurde berichtete über die Ankunft in Skirotawa folgendes:

„Schon am Bahnhof hieß es: wenn jemand glaube, den Weg zum Ghetto nicht zu Fuß zurücklegen zu können, sollte er sich melden. Einige ältere Leute taten dies auch. Sie wurden in einen Autobus geladen… und sie kamen nie im Ghetto an.“

Die anderen wurden unter Schreien, Beschimpfungen, Schlägen und Hundegebell auf den Weg ins Ghetto Riga in die heruntergekommene Moskauer Vorstadt getrieben.

Nach Ankunft musste Heinz Wertheim noch am Bahnhof Skirotawa das Gepäck ausladen und in einem Lagerschuppen verstauen, bevor er auch ins Ghetto kam. Die Familie bekam zwei winzige Zimmer zugewiesen, die sich neun Personen teilen mussten.

Erst kurz zuvor am 30. November („Rigaer Blutsonntag“) und 8. Dezember 1941 waren hier etwa 27000 lettische Juden von der deutschen Einsatzgruppe A und lettischen Hilfstruppen aus dem Ghetto getrieben und bei Massenerschießungen im Wald von Rumbala umgebracht worden. Die mit dem ersten von acht Berliner Riga-Transporten ankommenden 1053 Juden waren am 30. November zusammen mit den Letten aus dem Ghetto erschossen worden, da das Ghetto für sie noch nicht zur Verfügung stand.

Bei der zweiten Massenerschießung weigerten sich viele Letten ihre Wohnungen zu verlassen, da sie inzwischen wussten, was ihnen drohte. Sie wurden bei systematischen Durchsuchungen entdeckt und in ihren Wohnungen erschossen.

Die Wohnungen im Ghetto waren verwüstet, teilweise mit Blut bespritzt. Nach den Massenerschießungen war lettische Ghetto war gründlich geplündert worden.

Irmgard Heimbach-Ohl berichtete:

„Wir kamen dort an, und die Wohnungen, sah man, waren fluchtartig verlassen worden. Alles war durchgewühlt, Schränke, Schubladen usw. Das Essen stand noch auf dem Tisch, natürlich gefroren, und alles war durchwühlt. Es war furchtbar.“

Erika Mannheimer aus Wildungen notierte in ihrem Tagebuch:

„Die Türen waren mit Blut bespritzt, die Betten mit Blut betränkt.“

 Die Straßen wurden von den neuen Bewohnern nach dem Herkunftsort der Deportierten benannt, so beispielsweise die Vilanu Iela in Bielefelder Straße.

Die Juden aus Ostwestfalen, so die späteren Freunde der Wertheims Ingrid Heimbach und Ewald Aul aus Osnabrück wurden im Haus Bielefelder Straße 7 in der Nähe des alten jüdischen Friedhofs von Riga untergebracht.

Bereits am Tag nach der Ankunft in Ghetto, dem 17. Dezember fand der erste Appell für die Bielefeld-Gruppe statt und die Männer wurden zur Arbeit eingeteilt. In den ersten drei Wochen musste Heinz Wertheim im Hafen von Riga Schiffe entladen und kam dort offenbar in einem Außenbarackenlager unter, „nur Baracken und Strohlager“ berichtet er selbst.

Bei einer abendlichen Hausdurchsuchung am 18. Dezember auf der Bielefelder Straße durch die Gestapo (SD) wurden Männer geprügelt, es fielen Schüsse. Zwei Männerleichen, durch Genickschuß ermordet, wurden am nächsten Morgen gefunden.

Am 22. Dezember 1942 wurden 500 Männer unter 45 Jahren der Bielefeld- und der Hannover-Gruppe beim Appell im Ghetto selektiert und zum Aufbau von Salaspils abkommandiert, hierunter auch ein weiterer überlebender Weggefährte und Freund, Artur Sachs aus Werther.

Artur Sachs hat Heinz Wertheim nach dem Krieg wiederholt großzügig beim Aufbau seines Textilgeschäftes in Gildehaus unterstützt, Stoffe und Waren besorgt und ihm in den 1950er Jahren sogar einen PKW beschafft, ein Vorkriegsmodell der Marke Opel Olympia.

Heinz Wertheim war wegen seiner Arbeit im Hafen nicht im ersten Salaspils-Kommando dabei, gehörte aber zu der nächsten Aufbaugruppe, die am 13. Januar 1942 den Marsch ins 12 Kilometer entfernte Salaspils antreten musste.

Im Oktober 1941 hatte Gerhard Maywald, SS-Obersturmführer von seinem Vorgesetzten im Gruppenstab Rudolf Lange, SS-Standartenführer und Leiter der Einsatzgruppe A den Auftrag für den Aufbau erhalten. Geplant war es zunächst als „Erweitertes Polizeigefängnis und

Arbeitserziehungslager“. Nach der Fertigstellung im Sommer 1942 wurde es ein Konzentrationslager für Partisanen unterstützende lettische Zivilbevölkerung und russische Kriegsgefangene.

Die Arbeitsbedingungen in Salaspils waren mörderisch: eine einzige ungeheizte Baracke mit Minustemperaturen im Gebäude, so dass die Häftlinge sogar beim Schlafen die Mützen aufbehalten mussten, harte, kräftezehrende Arbeit, ungenügende Ernährung ließen viele schon früh umkommen.

Die schlechte Versorgung ließ den streng verbotenen Tauschhandel blühen, der brutal geahndet wird; fast täglich wurden im Lager Hängungen zur Bestrafung und Abschreckung vorgenommen.

Heinz Wertheim schreibt über Salapils: „Täglich Erschießungen, hungernde Menschen, Tote und nie war der Galgen leer. Das Lager war 1200 Mann stark. Doch schon in den ersten vier Monaten hatten wir 1000 Tote.“

Josef Katz aus Lübeck schreibt in seinen „Erinnerungen eines Überlebenden“ über Salaspils:

„Es heißt jeden Mittag: ‚Innendienst antreten – im Gleichschritt marsch.’  Wir gehen dann um die Ecke auf den freien Platz, wo der Galgen steht. Einstein, der Lagerälteste, kommandiert: ‚Die Augen links!’ Dann kommt der Oberscharführer Nickel, verliest das Urteil, dass der Jude Hans Maier aus Hamburg wegen versuchten Tauschhandels zum Tode durch Erhängung verurteilt worden ist. Während der der Verlesung des Urteils steht der Verurteilte unterm Galgen. Besen hilft ihm auf den Hocker, Einstein befiehlt „Stuhl weg“, und wieder sind wir um einen weniger.“

Heinz Wertheim hatte Glück: Ein Onkel aus Horstmar, vermutlich Otto Eichenwald (*20. Januar 1906), forderte ihn als Metzger für die Lagerküche von Salaspils an. Diese Posten galten als Vergünstigung, da man so leichter an Nahrungsmittel herankam und nicht auf den lebensgefährlichen Tauschhandel angewiesen war.

Ebenfalls in Salaspils war Wertheims Weggefährte Ewald Aul (1926-2013), der mit seiner Tante Frieda Lieblich ins Judenghettohaus in der Hegerstraße24 in Osnabrück zwangseingewiesen worden war, ebenso wie die Familie Heimbach. Sie gehörten somit ebenfalls zur Bielefelder Gruppe. Ewald Aul hat überlebt, da er als Sanitäter für die Krankenversorgung in Salaspils benötigt wurde. Später wurde er der Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Osnabrück.

In Salaspils kamen weit mehr als 1000 Häftlinge um, dazu gehörten auch Heinz Wertheims Onkel Otto Eichenwald und der Vater Siegfried von Irmgard Heimbach-Ohl am 5. April 1942 . Am 2. August 1942 kehrten nur 192 Männer zurück.

Heinz Wertheim kam im Juli 1942 zurück ins Ghetto Riga

Dort musste er von seiner Schwester Fine erfahren, dass seine Mutter und Tante Hannchen bereits im März in der sogenannten Dünamünde-Aktion erschossen worden waren. Sie waren als alte Menschen bis dahin nicht in Arbeitskommandos eingeteilt worden. Bereits im Februar 1942 musste Herbert Schultz aus Köln, der Leiter der jüdischen Arbeitsverwaltung im Ghetto, für den Kommandanten Kurt Krause ein Kommando von 20 Arbeitern zusammenstellen, die die Gruben für die Massenerschießungen ausheben mussten. Den im Ghetto internierten Alten und Kranken war dabei vorgelogen worden, sie könnten in den fiktiven Ort Dünamünde verlegt werden, wo bessere Unterkünfte und leichtere Arbeit auf sie warten würden. Insgesamt wurden bei den Dünamünde-Aktionen im Hochwald von Bikernieki etwa 6000 reichsdeutsche Juden erschossen, auch Frieda Lieblich, die Tante seines Freundes Erwin Aul.

Heinz Wertheim hatte sich offensichtlich durch seine Arbeit in der Lager Küche von Salaspils bei der SS als fleißiger und qualifizierter Metzger empfohlen. Er wurde deshalb in die Küche des Armeebekleidungsamt der Wehrmacht A.B.A. 701 in Riga-Mühlgraben als Koch eingeteilt. Hier hatte er die Möglichkeit ausreichend Lebensmittel zu „organisieren“.

Im Oktober 1943 gingen Heinz und seine Schwester Fine Wertheim mit einer aus Riga verlegten Einheit der Einsatzgruppe A nach Pleskau.

Die Gestapo nahm ihn, Schwester Fine und weitere 38 jüdische Fachkräfte wie Automechaniker, Köche, Schneider mit zur Dienststelle des Stabes der Einsatzgruppe A nach Pleskau. Pskow war vom 9. Juli 1941 bis zum 23. Juli 1944 von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Die Einsatzgruppe A sollte von hier aus die im Rücken der deutschen Wehrmacht operierenden Partisanen vernichten. Später wurden die Wertheims mit den SD-Einheiten noch bis kurz vor Leningrad verlegt. Da die Angriffe der Partisanen an Gefährlichkeit zunahmen, verlegte der SD die Einheit kurzfristig in ein Konzentrationslager nahe Pleskau. Es ist zu vermuten, dass es sich dabei um das Stammlager 372 für russische Kriegsgefangene und Zivilisten handelte; hier wurden auch der Kooperation mit den Partisanen Verdächtigte unter erbärmlichsten Bedingungen gefangen gehalten. Nach zehn Tagen in diesem Lager ging es wieder zur Gestapodienststelle Pleskau. Das jüdische Arbeitskommando war inzwischen auf 30 Kräfte reduziert, es hatte bereits zehn Zwangsarbeiter eingebüßt.

Heinz Wertheim bekam in Pleskau eine neue Aufgabe und musste sich als Futtermeister um achtzehn Reitpferde sowie um das dort gehaltene Schlachtvieh kümmern. Seine Schwester Fine arbeitete als Zimmermädchen für die SS-Offiziere.

In Pskow spielte sich vermutlich auch die folgende von Hella Wertheim beschriebene Episode ab:

„Einmal hatte ein SS-Mann Heinz aufgefordert, eine fortgelaufene Kuh zurückzuholen. Mein Mann weigerte sich, weil er Angst davor hatte, dass der SS-Mann ihn dann „auf der Flucht“ erschießen würde. Er erzählte mir, dass es trotz seiner Weigerung gut für ihn ausgegangen wäre. In anderen Fällen sind Häftlinge in einer ähnlichen Situation dann wegen „Befehlsverweigerung“ erschossen worden.“

Nach einem halben Jahr in Pleskau wurde die Gestapodienststelle dann wegen der näher rückenden Roten Armee im Februar 1944 zurück nach Riga verlegt.

Heinz Wertheim und seine Schwester kamen aber nicht wie erhofft zurück ins A.B.A.701 in Riga-Mühlgraben, sondern – da das Ghetto Riga im November 1943 endgültig aufgelöst worden war, ins Konzentrationslager Kaiserwald. Nach der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto hatte der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Juni 1943 angeordnet:

„In der Nähe von Riga ist ein Konzentrationslager zu errichten, in das die ganzen Bekleidungs- und Ausrüstungsfertigungen, die die Wehrmacht heute außerhalb hat, zu verlegen sind.“

Die Aufnahmeprozedur im Konzentrationslager Kaiserwald war für viele ein Schock, die Zivilkleidung musste gegen zerlumpte Häftlingsuniform getauscht werden, die Haare wurde geschoren, Männer und Frauen wurden in durch Stacheldrahtzäune getrennten Baracken untergebracht. In diesen Baracken führten zumeist kriminelle Kapos ein brutales Regiment. Heinz Wertheim verblieb im Konzentrationslager Kaiserwald als Arbeiter in der Küche bis zu seiner Auflösung im Juli/August 1944. Die zwischenzeitlich in ein Außenlager von Kaiserwald verlegte Schwester konnte er durch „Beziehungen“ wieder ins Hauptlager Kaiserwald zurückholen.

Infolge der näherkommenden russischen Truppen gingen zwei große Evakuierungstransporte mit den Häftlingen des Konzentrationslagers Kaiserwald und seiner zahlreichen Außenlager in und um Riga nach Stutthof ab.

Der erste große Transport erfolgte am 6. August 1944 von Riga nach Danzig mit der BREMERHAVEN über die Ostsee.

In den Transporten, die schon im Juli 1944 aus dem Ghetto Kauen (Kaunas) in Litauen nach Stutthof kamen, befanden sich auch die Nachbarn aus Gildehaus Henny und Isidor Heymann, darüber hinaus viele Mütter mit kleinen Kindern. Isidor Heymann wurde wie viele andere Männer, die im Juli 1944 aus Kauen nach Stutthof kamen, weiter nach Dachau transportiert und starb dort am 6. November 1944; seine Frau Henny kam am 8. Januar 1945 in Stutthof um.

Der zweite Evakuierungstransport am 28.9.1944 brachte 3155 Häftlinge aus Riga Kaiserwald auf dem Frachtschiff KANONIER von Riga nach Danzig, von dort ging es weiter auf Kohlenlastkähnen nach Stutthof, wo der Transport am 1. Oktober 1942 eintraf. Erneut wurden Männer und Frauen getrennt; hier sieht Heinz Wertheim seine Schwester zum letzten Mal.

Das im Aufbau befindliche „Judenlager“ als Teil des KL Stutthof war mit der Aufnahme der ca. 49 000 in der zweiten Jahreshälfte 1944 aus Auschwitz, Riga und Kaunas deportierten Häftlingen hoffnungslos überfordert, es herrschten in den unfertigen Baracken katastrophale Zustände, die Versorgung war vollkommen unzureichend. Im November kam es zu Ausbrüchen von Typhus und Fleckfieberepidemien, die zahllose Frauen dahinrafften, vermutlich auch Wertheims Schwester Josefine, die am 26. November 1944 in Stutthof umkam.

Im November 1944 geht Heinz Wertheim mit einem Transport von 601 jüdischen Stutthof-Häftlingen aus 16 verschiedenen Ländern in das Außenlager Hailfingen/Tailfingen zum Komplex des Konzentrationslagers Natzweiler /Elsass gehörig in der Nähe von Tübingen. Ebenfalls auf diesem Transport war Max Leiser, der Älteste des Judenrates von Riga.

Heinz Wertheim kam im November 1944 nach Tailfingen (40 978). Im Februar 1945 wurde er nach Dautmergen transportiert, kam von dort im April auf den Todesmarsch und wurde in Altshausen von der französischen Armee befreit.

Heinz Wertheims Häftlingsjacke mit der Natzweiler-Häftlingsnummer ist erhalten geblieben.

Witwe Hella Sass berichtet im Buch von Manfred Rockel:

„Mein Mann wollte, so schnell es ging, nach Hause nach Gildehaus, in der Hoffnung, seine Mutter, seine Tante, seine Schwester und seine Verlobte wiederzusehen. Er musste sich noch wochenlang im Süden aufhalten, da die Bahnverbindungen noch unterbrochen waren. Als er schließlich mit dem Zug heimwärts fahren konnte, bekam er in Siegen einen derartig schlimmen Hexenschuss, dass er dort ein paar Wochen im Krankenhaus liegen musste. … Dann kam Heinz Wertheim schließlich am Bahnhof in Bentheim an (und) … machte sich zu Fuß auf den Weg nach Gildehaus. … Seine Hoffnung, dass jemand aus seiner Familie oder seine Verlobte zurückkommen würden, erfüllte sich nicht.“

18.6.1946 in Gildehaus Heirat mit der 18-jährigen Hanna Sass. Sie eröffnen in Gildehaus ein kleines Textilgeschäft.

Artur Sachs hat Heinz Wertheim nach dem Krieg wiederholt großzügig beim Aufbau seines Textilgeschäftes in Gildehaus unterstützt, Stoffe und Waren besorgt und ihm in den 1950er Jahren sogar einen PKW beschafft, ein Vorkriegsmodell der Marke Opel Olympia.

In Gildehaus ist Heinz Wertheim am 8.7.1987 gestorben

Gedenken

Buch von Hella Wertheim/Manfred Rockel, Immer alles geduldig getragen

Quellen

Deutsche Minderheiten-Volkszählung 1939

https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de990700

https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de990707

Hella Wertheim/Manfred Rockel, Immer alles geduldig getragen, Bielefeld 2004

Volker Mall, Die Häftlinge des KZ Außenlagers Hailfingen/Tailfingen 2014

https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_wfn_411213-o4.html

https://collections.arolsen-archives.org/en/document/77943093

Preußische Verlustlisten vom 27.9.1915, Seite 9029

Preußische Verlustlisten vom 10.4.1917 Seite 21001

Preußische Verlustlisten vom 16.5.1918 Seite 23625

Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen, 1914-1918: ein Gedenkbuch, Reichsbund jüd. Frontsoldaten, Verlag Der Schild, 1932

https://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de/pdf/kzht.v.ve_flugplatz_c.pdf

https://www.dsk-nsdoku-oberschwaben.de/meta-navigation/forschungsergebnisse/oberschwaben-spuren-der-todesmaersche/

kzht.ar.ju.alle_diehaeftlinge_b.pdf (kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de)

Literatur Wertheim

Angrick, Andrej; Mallmann, Klaus-Michael; Matthäus, Jürgen; Cüppers, Martin (Hrsg.), Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941-45 Band 2 (Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Band 23). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013

Aul, Ewald (Osnabrück), Alle nur erdenklichen Grausamkeiten, in: Peter Junk/Martina
Sellmeyer, Stationen nach Auschwitz, Rasch –Verlag Bramsche 1988, S. 194–197

Katz, Josef, Erinnerungen eines Überlebenden, Neuer Malik Verlag, 1988

Kaufmann, Max, Churbn Lettland, Hartung-Gorre-Verlag, 2010

Liste der Juden im Landkreis Diepholz, Geflüchtet, vertrieben, deportiert und ermordet –

Jüdische Schicksale in der NS-Zeit, siehe untenstehenden Link

Minninger M., Meynert J., Schäffer F., Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45, Bielefeld 1985, S. 288-291

Ohl, Irmgard, Bericht im Yad Vashem Archiv, O.93/22345

Oppenheimer, Richard, Grötecke, Johannes (Hrsg.), Sklaven im Stacheldraht, das Tagebuch der Erika Mannheimer Erika, Tagebuch, 1945;

Rockel, Manfred, Wertheim, Hella, Immer alles geduldig getragen, Lingen, 5. Auflage 2012

Sandow, Chris, Käte Frieß’ Aufzeichungen über KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945″, 2017

Schneider, Gertrude, Reise in den Tod, Deutsche Juden in Riga 1941-1944, Laumann-Verlag, 2008

Schulz, Andrea, Holocaust überlebt und nach Osnabrück zurückgekehrt, NOZ 2006

Sherman, Hilde, Zwischen Tag und Dunkel. Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt/M.-Berlin-Wien, 1984

Weinberg, Siggi, Bericht und  Interview mit Winfried Nachtweih, siehe untenstehenden Link

Wertheim, Heinz, Brief an Herbert und Leni Wilzig, Schüttorf, 19.8.1946

Veröffentlicht von Franz-Josef Wittstamm

Geboren 31. Mai 1951 in Recklinghausen Gymnasium Petrinum 1961 bis Abitur1970 Studium der Humanmedizin in Bochum Approbation 1981 Promotion1982 Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Intensivmedizin Im Ruhestand seit 2016

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