Ruth Fanny Niedrig geb. Seckelsohn
*15.11.1920 in Berlin; ✡August1943 in Auschwitz
Staatsangehörigkeit deutsch; nach der Heirat polnisch
Religion jüdisch
Vater Hans Seckelsohn; ✡unbekannt
Heirat der Eltern 28.9.1920 in Berlin; Scheidung 5.6.1923 in Berlin
Mutter Else Arendt *25.9.1900 in Berlin; ✡ in Sobibor
Geschwister zwei
Beruf Verkäuferin
Adressen Auschwitz; Berlin, Mauerstraße 89; Flensburg Südergraben; Bielefeld
Heirat Schulim Fritz Niedrig*12.9.1910 in Auschwitz; ✡ 1987 in Toronto
Weiterer Lebensweg
28.10.1938 Familie Niedrig verhaftet und in der ersten Polenaktion abgeschoben nach Zbaszyn
Von Zbaszyn ging die Familie nach Warschau, als im Frühjahr 1939 auch seine Ehefrau Ruth nach Polen abgeschoben werden sollte, ging Schulim zurück nach Berlin
Die gescheiterte Flucht nach Dänemark
Mai 1939 beide flüchteten zu Fuß bei Flensburg über die dänische Grenze
Stolpersteinbericht aus Kopenhagen:
„Mai 1939 überqueren sie die Grenze bei Flensburg zu Fuß. Von dort reisten sie mit dem Bus nach Kopenhagen. In Nyborg wurden sie verhaftet und kamen ins Gefängnis. Einige Tage später wurde das Paar mit einer Fähre nach Danzig geschickt. Dort wurden sie abgewiesen und fuhren nach fünf Tagen auf derselben Fähre wieder zurück nach Kopenhagen. Das Paar bleibt dort für weitere zwei Monate in Gewahrsam. Ruth Niedrig schrieb Bittbriefe an den König Christian X. und Liebesbriefe an ihren Mann. Auch dieser schrieb Briefe an Behörden und Briefe an seine Frau. Alle Briefe werden beschlagnahmt. Trotzdem wurde das Jüdische Hilfskomitee auf das Paar aufmerksam und half. Im August 1939 wurden Ruth Niedrig und ihr Ehemann aus dem Gefängnis entlassen und erhielten Geld und Essenskarten vom Komitee. 1940 beantragten sie Visa für die USA und Italien. Schulim Niedrig glaubte, dass es einfacher wäre, von Italien in die USA auszuwandern. Im Mai 1940 ging Ruth Niedrig am Abend ins Kino, währenddessen wurde Schulim Niedrig vor dem Haus von Freunden verhaftet. Da Schulim Niedrig nur schlecht dänisch sprach, konnte die Situation nicht aufgeklärt werden. Am nächsten Tag holten die Polizisten auch Ruth Niedrig ab. Wieder befand sich das Paar im Gefängnis. Der Generalstaatsanwalt Harald Petersen wollte beide nach Polen abschieben, was nicht ging, weshalb der Polizeipräsident Harry Chr. Mikkelsen Kudsk wiederum die Entlassung des Paares empfahl. In der Zwischenzeit trafen Forderungen der Behörden in den USA nach weiteren Papieren für Schulim Niedrig ein, sein Visum war also noch immer nicht bewilligt. Die deutschen Behörden erklärten sich bereit das Ehepaar aufzunehmen. Troels Hoff, zu dem Zeitpunkt noch Staatsanwalt und nach dem Krieg Chef des dänischen Sicherheitsdienstes, notierte am 6. Juni 1942 zu diesem Fall: „Sie werden eines Tages nach Polen geschickt“. Am 11. Juli 1940 wurden Ruth und Schulim Niedrig den deutschen Behörden übergeben und nach Flensburg gebracht, wo sie weitere zwei Monate im Gefängnis verbrachten.“
Das Umschulungs- und Einsatzlager in Bielefeld Schlosshofstraße 73 a
1939 Nachdem zahlreiche, in Bielefeld lebende Jüdinnen und Juden in „Judenhäusern“ zwangseingewiesen wurden, schloss die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) mit den jeweiligen Städten Verträge zur Errichtung der Umschulungs- und Einsatzlager in Bielefeld Schlosshofstraße 73 a und Paderborn, Grüner Weg 86;
Anfang September entstand zunächst ein Wohn- und Arbeitslager in der Koblenzer Straße 4 (heute: Artur-Ladebeck Straße 6). Das Haus beherbergte zuvor die Praxis des nach Holland geflüchteten Orthopäden Dr. med. Bernhard Mosberg.
März/April 1940 wegen der räumliche Enge Wechsel in das Lager in der Schloßhofstraße 73a.
Dort bestand auch eine Unterkunft für alte und kranke Jüdinnen und Juden („Siechenheim“) als Einrichtung der RVJD. Vom Lager aus wurden die Männer kolonnenweise bei den Straßen-, Tief- und Gleisbauarbeiten der Fa. Nebelung & Sohn eingesetzt.
1940 erfolgte ein Austausch männlicher Bewohner mit dem Umschulungslager Paderborn; die zionistischen Chawerim wechselten nach Paderborn und umgekehrt.
12.9.1940 Ehepaar Niedrig aus Flensburg, Gerichtsgefängnis im Südergraben, (Berlin, Mauerstraße 89) in das Lager in der Schloßhofstraße 73a; unter der Adresse Flensburg, Südergraben 22 findet sich das Amts- und Landgericht mit Gerichtsgefängnis.
3.10.1940 Passausstellung für das Ehepaar Niedrig in Bielefeld
5.7.1941 behördliche Anordnung zur Auflösung der Hachschara-Lager; Umbenennung „Jüdisches Arbeitseinsatzlager Bielefeld“
Herbst 1942 Errichtung von Baracken für junge Familien auf dem Gelände.
November 1942 in Kraft tretendes Gesetz: „Alle im Reich gelegenen Konzentrationslager sind judenfrei zu machen und sämtliche Juden sind nach Auschwitz und Lublin zu deportieren.“
20.2.1943 neue Richtlinien des Reichssicherheitshauptamtes für die „technische Durchführung der Evakuierung“
13.6.1942 Mutter Else auf dem XVI. Osttransport von Berlin nach Sobibor
Ende Februar/März 1943 Reichsweite „Fabrikaktion“, alle noch in Arbeitslagern und kriegswichtigen Betrieben beschäftigten „Volljuden“ werden verhaftet und in Konzentrationslager nach Auschwitz deportiert, um den Arbeitskräftebedarf im Nebenlager Buna zu decken.
27.2.1943 Befehl von Wilhelm Pützer (1893-1945), Leiter des Judenreferats der Gestapo-Außendienststelle Bielefeld, das „jüdische Arbeitseinsatzlager in Bielefeld“ aufzulösen und deren Insassen und weitere Juden aus dem Sprengel bis zum 1. März, also zwei Tage später, nach Bielefeld zu bringen, wo sie „spätestens“ bis 13 Uhr im „Saal der Eintracht“ eintreffen mussten.
1.3.1943 Auflösung des Arbeitslagers Bielefeld, mit Bussen ins Sammellager Saal im Haus der Gesellschaft „Eintracht“ am Klosterplatz
Erwin Angress berichtet:
„Die Jüdischen Lagerinsassen – insgesamt 99 – wurden in Extrawagen nach Bielefeld transportiert, die an den fahrplanmäßigen Zug ab Paderborn am 1.3.43 um 8.24 Uhr angehängt wurden. In Bielefeld gab es im Saal des Vereinslokals ,Eintracht‘ ein Sammellager für Juden aus dem ganzen Bezirk. Bereits in der darauffolgenden Nacht vom 1. auf den 2. März 1943 wurden alle Juden zum Bielelelder Güterbahnhof gebracht und in Waggons gepfercht. Mit diesem Zug rollten wir dann nach Auschwitz… Nur 9 Personen haben überlebt.“
2.3.1943 ab dem Güterbahnhof Bielefeld für 40 Stunden im geschlossenen Güterwaggon, Transport Bielefeld über Hannover – Erfurt – Dresden nach Auschwitz mit den 69 Insassen des Lager Bielefeld Schloßhofstraße und allen 98 Chawerim aus dem Arbeitslager Paderborn.
3.3.1943 Ankunft und Selektion der ‚Alten Rampe‘ am Güterbahnhof von Auschwitz;
Ernst Michel berichtet:
„Es gab nun zwei Reihen, beide rückten langsam voran. Männer an eine Seite, Frauen an die andere. … Issy schlurfte neben mir. Er war in Paderborn einer der charismatischen und zuverlässigsten Leiter. Er war dynamisch, optimistisch und stets hilfsbereit. Er war stark wie ein Stier. Er hatte Lilo in Paderborn geheiratet einige Wochen vor unserer Deportation. Sie war bereits auf der anderen Seite. Tränen rannen sein Gesicht hinunter. Ich berührte ihn. Er nickte nur.“
Kalendarium von Auschwitz vom 3.3.1943
„Reichssicherheitshauptamt Transport, Juden aus Berlin. Nach der Selektion lieferte man 535 Männer als Häftlinge ins Lager ein, sie bekamen die Nr. 104 890 – 105 424; 145 Frauen bekamen die Nr. 36 9035 – 37 079. Die übrigen wurden vergast.“
Schulim Niedrig eingewiesen in Auschwitz III zum Aufbau des IG-Farben Werkes Buna Monowitz, auf LKW in die Quarantäneblöcke des „Arbeitslager Buna“ gebracht; Tätowierung der „nichtarischen“ Häftlinge, er bekommt die Auschwitz-Häftlingsnummer 105132 in den linken Unterarm tätowiert.
Ruth Niedrig wird ins Lager Auschwitz Birkenau eingewiesen.
Ruth Niedrig wird kurz nach der Ankunft von Schäferhunden gebissen
August 1943 Ruth Niedrig stirbt an den Folgen.
Schulim Niedrig überlebt Auschwitz
Bericht aus Kopenhagen:
„Schulim Niedrig traf im Lager einen ehemaligen Bekannten, mit dem er Mitglied in der Sozialistischen Partei war. Dieser Bekannte hatte inzwischen die Seiten gewechselt und war hier Gefängniswärter. Mit dessen Hilfe konnte Schulim Niedrig die Zwangsarbeit in Buna überleben.“
1987 Tod von Fritz Niedrig in Toronto an einem Herzinfarkt
Gedenken
20.5.1999 Pages of Testimony für Ruth und ihre Mutter Else Seckelsohn geb. Arendt (deren Mutter war Laura Arendt geb. Guttfeld) von Cousine Khana Gutfeld
2019 oder 2020 Stolperstein für Ruth Niedrig in Kopenhagen Kronprinsengade 13
Quellen
Auszug aus dem Hausbuch Schloßhofstraße des Einwohnermeldeamtes Bielefeld (Signatur: StArchBi, Bestand 104,3 Einwohnermeldeamt, Nr. 1547)
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_im_Gro%C3%9Fraum_Kopenhagen
Vilhjálmur Örn Vilhjálmsson: Medaljens bagside – jødiske flygtningeskæbner i Danmark 1933–1945. Vandkunsten, Kopenhagen 2005, S. 83–96
Norwegen, Auswanderungsregister, 1867-1959
https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de937128
https://collections.arolsen-archives.org/de/document/6709298
Daniel Hoffmann, Lebensspuren meines Vaters, Wallstein Verlag 2007
Deutsche Minderheiten-Volkszählung 1939
https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_wfn_43a.html
https://www.statistik-des-holocaust.de/OT430302_1.jpg
Margit Naarmann, Ein Auge gen Zion, Paderborn, 2000; ISBN3-89498-087-7
Ernest W. Michel, „Promises Kept – Ein Lebensweg gegen alle Wahrscheinlichkeiten“, 2013
Kurt Salinger, Nächstes Jahr im Kibbutz, Paderborn 1998